Wenn Andreas Ollmann über neue Arbeits- und Organisationsformen spricht, dann tut er das aus Erfahrung. Mit seiner Agentur Ministry Group probiert er seit fast fünf Jahren aus, wie die Zukunft der Arbeit funktioniert – und wie nicht. Seine New-Work-Erfahrungen hat er für Faktor A in sieben Leitsätzen zusammengefasst.
Ich starte mal gleich mit einer Binsenweisheit: Digitalisierung verändert alles, jede Branche, jeden Job. Das heißt, jeder im Management muss sich und sein Unternehmen darauf einstellen. Niemand kann sagen: „Mit uns hat das alles nichts zu tun.“
Wobei: Natürlich kann man das sagen. Es könnte aber sehr gut sein, dass es Ihr Unternehmen dann schon sehr bald nicht mehr gibt. Denn wir leben in exponentiellen Zeiten. Durch die Digitalisierung wird jede Veränderung prinzipiell einer exponentiellen Entwicklungskurve folgen, die also zuerst unscheinbar und dann sehr extrem ansteigt. Dieser „Hockey Stick“ gilt dabei nicht nur für Businesspläne von Start-ups, sondern eben für uns alle, für jede Veränderung, die durch die Digitalisierung beeinflusst wird.
Das Problem: Die Veränderung bewegt sich lange fast parallel zur x-Achse. Und ist damit deutlich unter dem Radar der etablierten Unternehmen. Aber sobald sie sich erst einmal so weit davon entfernt hat, dass sie die Radarflughöhe überschreitet, verdoppelt sich der Effekt mit jeder zusätzlichen Zeiteinheit. Das heißt: Wenn es wehtut, kann es schon zu spät sein, um noch zu reagieren. Diese Dynamik sind viele unserer Unternehmen aus ihren Märkten nicht gewohnt.
Hierarchiefreie Teams bei der Ministry Group
Bei der Ministry Group haben wir vor mehreren Jahren einen Restrukturierungsprozess gestartet, der uns erlauben soll, uns auf diese Zeit einzustellen. Konkret: Wir haben zum Beispiel 2013 eine Struktur geschaffen, die aus crossfunktionalen, eigenverantwortlichen und hierarchiefreien Teams besteht. Wir haben diese Teams „X-Teams“ genannt. Diesen Teams haben wir möglichst viel Entscheidungsspielraum gegeben. Und sie aus dem Management als „Serviceteam“ unterstützt.
Wir sind mit einem sehr freien Ansatz gestartet, haben den Teams viel Freiraum gegeben. Zu viel, wie wir bald lernten: Wir haben unterschätzt, wie sehr wir Menschen durch unser heutiges Bildungssystem geprägt sind, das nicht unbedingt Eigenverantwortung, Mut oder Experimentierbereitschaft fördert. Wir waren auch zu radikal, was die Themen Hierarchiefreiheit und Eigenverantwortung angeht. Wir haben den Begriff Hierarchie bewusst verneint. Um zu erreichen, dass sich die Menschen bei uns mit Alternativen zur klassischen Hierarchie beschäftigen.
Aber wir haben einige damit überfordert. Wir haben dann im Lauf der Zeit unsere Konzepte überprüft und angepasst. Und sind heute auf einem guten Weg. Die Erfahrungen der letzten drei Jahre haben uns als Organisation weitergebracht. Wir haben in dieser Zeit eine Menge Erfahrungen gesammelt. Und viel gelernt.
Sieben Thesen zu „New Work“
Unsere wichtigsten Erkenntnisse habe ich in den folgenden sieben Thesen zusammengefasst. Sie alle drehen sich um neue Arbeits- und Organisationsformen, also das, was Frithjof Bergmann „New Work“ nennt. Über jede einzelne These kann man stundenlang diskutieren – hinterlassen Sie daher gerne Ihre Meinung bei den Kommentaren am Ende des Textes.
1. Warum gibt es Ihr Unternehmen eigentlich?
Alle Unternehmen können sagen, was sie tun. Die meisten Unternehmen werden auch kein Problem damit haben, zu sagen, wie sie es tun. Aber der Kommunikationsexperte Simon Sinek hat absolut recht, wenn er fordert: „Start with why“ – fangen Sie mit dem Warum an. Definieren Sie, warum es Ihr Unternehmen gibt – und warum es auch im 21. Jahrhundert existieren sollte. Warum Sie und Ihre Mitarbeiter morgens in die Firma kommen sollten. Das ist der Kern Ihrer unternehmerischen Existenz. Ohne sich dieses Kerns bewusst zu werden, kommen Sie vom Weg ab.
2. Gehen Sie in die Bibliothek, aber suchen Sie kein Handbuch
Für „New Work“ gibt es kein Handbuch. Es gibt Ansätze, gemeinsame Prinzipien und Werte, aber jedes Unternehmen muss seinen eigenen Weg finden. Vergessen Sie vermeintliche Heilsbringer wie Holocracy, den Spotify-Weg oder die Methode Semco. Studieren Sie diese – und fragen Sie sich, was Sie daraus mitnehmen können. Aber sehen Sie sie als das, was sie sind: Lösungen, die für ein Unternehmen passen. Solange Sie nicht Spotify sind, hilft Ihnen der Spotify-Weg in Reinform wahrscheinlich nicht. Sie brauchen Ihren eigenen Weg, der zu Ihnen und Ihrem Unternehmen passt.
3. Die Hierarchie ist tot. Lang lebe die Hierarchie!
Bei Ministry haben wir für unsere Teamstruktur den Begriff „hierarchiefrei“ benutzt. Ganz bewusst, um zu provozieren. Machtpyramiden zementieren Strukturen, befördern die falschen Menschen (nämlich Machtmenschen), unterbinden das Mitdenken der „Untergebenen“, machen Unternehmen starr. Und das ist in einer hochagilen Umwelt tödlich. Was wir brauchen: wahre Führung. Menschen, die mit Begeisterung anderen Menschen helfen wollen, besser zu werden.
Führung heißt dienen. Und diese Führung wechselt in einer Gruppe – je nach Thema. Bei dem einen Thema führe ich. Weil ich es gut kann, mich auskenne, mich stark involvieren möchte. Bei einem anderen Thema folge ich. Dafür brauchen wir Strukturen, Systeme und letztlich auch andere Entlohnungsstrukturen. Und wir brauchen ein klares Bekenntnis, wie „Führung“ und wie „Folgen“ genau aussieht.
4. Voller Durchblick: radikale Transparenz
Alle im Unternehmen tätigen Personen haben das Recht, zu wissen, wie es dem Unternehmen geht. Und zwar möglichst umfassend. Natürlich gibt es Dinge, die erst einmal nur kleine Gruppen kennen und diskutieren sollten. Aber das meiste in einem Unternehmen sollte möglichst allen bekannt sein. Urlaubstage, betriebswirtschaftliche Kennzahlen, Gehälter, auch Pläne und Vorhaben. Dann können alle damit arbeiten.
5. Eigenverantwortung und Vertrauen
„Angestellte wie erwachsene Menschen zu behandeln, sollte zum gelebten gesunden Menschenverstand gehören. Gleichwohl ist es nicht gelebte Praxis.“ (Jurgen Appelo) Warum eigentlich nicht? Warum verzichten so viele Unternehmen auf so viel wertvolle Köpfe? Ich glaube, weil Führungskräfte nicht vertrauen. Und da sind wir beim Kern dessen, was das sogenannte neue Arbeiten ausmacht: Es geht um Vertrauen. Menschen, die Vertrauen bekommen und sich mit ihrer Firma identifizieren, werden dieses Vertrauen nicht ausnutzen. Mehr noch: Menschen haben ein sehr feines Gespür dafür, was sie sich zutrauen können und wo sie Hilfe brauchen.
Schaffen Sie darum ein System, das dafür sorgt, dass Ihr Unternehmen sich kontinuierlich entwickeln und an Marktveränderungen anpassen kann. Dazu müssen alle Teile Ihres Unternehmens in der Lage sein, in ihrem direkten Umfeld Veränderungen anzustoßen und durchzuführen. Das ist nicht einfach. Und man muss dafür eine Menge neuer Entscheidungswege üben. Und als Führungskraft muss man loslassen und vertrauen.
6. Wir brauchen (k)eine Fehlerkultur
Fehlerkultur ist ein furchtbares Wort. Ich hasse es. Sprache ist da übrigens auch entlarvend: Wir sprechen davon, dass jemand „Fehler macht“. Aber: Niemand „macht“ Fehler aktiv. Fehler passieren. Und der, dem sie passieren, ärgert sich darum meist mehr als jeder andere. Außerdem ist das Wort Fehlerkultur zu sehr auf Negatives fokussiert. Es geht nicht um Spaß an Fehlern, sondern um Spaß am Lernen. Lernen ist wichtig. Damit meine ich nicht Erwachsenenbildung, Klassenzimmer und Vorträge. Es geht darum, Spaß an Experimenten zu entwickeln, regelmäßig anzuhalten und zurückzublicken und aus dem zu lernen, was man getan hat. Ich glaube also: Wir brauchen eine Lernkultur!
7. Wir brauchen Zeit – und Geduld
Alle angesprochenen Veränderungen brauchen Zeit. Zeit, damit das System „Unternehmen“ lernt. Veränderungen, wie sie hier nötig sind, lassen sich eben nicht von heute auf morgen per Befehl von oben einführen. Hier muss überzeugt werden, und alle Teile des Systems müssen lernen. Und Lernen braucht eben Zeit. Also fangen Sie besser heute als morgen damit an.
Sie begeben sich übrigens auf einen Weg mit einem beweglichen Ziel. Facebook sagt von sich: „This journey 1% finished.“ Und zwar schon seit Jahren. Das meint: Es geht darum, auf den Weg zu gehen, nicht um die Erwartung des Ankommens. Sie werden nie „ankommen“ im Sinne eines faustischen „Verweile doch! Du bist so schön!“. Und das ist die gute Nachricht: Als Faust das sagte, war er tot.
Über den Autor
Andreas Ollmann ist geschäftsführender Gesellschafter der digitalen Kommunikationsagentur Ministry Group in Hamburg. Er beschäftigt sich intensiv mit der Frage, wie wir künftig arbeiten werden. Jährlich veranstaltet er mit Gleichgesinnten die Konferenz New Work Future.
Quelle: Faktor A - Das Arbeitgebermagazin