Sie sind resilient und anpassungsfähig, sie arbeiten in Netzwerkstrukturen. Gordon Geisler beschreibt in einem umfassenden Überblick, was starke Organisationen auszeichnet.
In einer zunehmend komplexen und digitalisierten Wirtschaftswelt verändert sich die Form der Zusammenarbeit in Organisationen. An Bedeutung gewinnen vielfältige Teams, die sich selbstorganisiert remote zuarbeiten, statt in starren Silostrukturen die Mauern zu anderen Abteilungen hochzuziehen. Neben Leadership spielen dabei vor allem lebenslanges Lernen und Employability eine entscheidende Rolle.
Weg vom Top-Down-Modell
Wir befinden uns am Anfang der vierten industriellen Revolution. Wie die Welt nach dieser Transitionsphase aussehen wird, hängt auch davon ab, wie wir sie heute gestalten. Aufgrund der zunehmenden Dynamik der Märkte hat sich für viele Unternehmen die Erkenntnis breitgemacht: Starre Organisationsformen und langfristig ausgerichtete Strategien sind Schwachpunkte in der schnelllebigen Wirtschaftswelt von heute.
Klassische Hierarchiestrukturen und die Verteilung der Verantwortung auf wenige Einzelne passen nicht mehr zu den Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft. Starke Organisationen weisen dagegen einen hohen Grad an Resilienz und Anpassungsfähigkeit an sich kurzfristig verändernde Rahmenbedingungen auf. Welche Merkmale sind dabei entscheidend?
Mitarbeitende einbinden
Mitarbeitende führen nicht mehr aus, was ihnen „von oben“ delegiert wird. Nein, sie tragen direkt zur Entscheidungsfindung bei. In einer zunehmend komplexen Wirtschaftswelt ist es verantwortungslos, wenn nur eine Person (die Führungskraft) die Entscheidung fällt. Auf Basis welcher Grundlage sollte das geschehen? In komplexen Systemen gilt vielmehr die Maxime: Je mehr Menschen ein Problem aus ihren Blickwinkeln betrachten, desto vielfältiger fallen die Lösungsvorschläge aus – und desto sicherer ist die Entscheidungsgrundlage.
Diversity
Klar: Wenn ein Team jetzt nur aus 50-jährigen weißen, männlichen Informatikern besteht, werden die Lösungsansätze wesentlich monotoner ausfallen, als wenn das Team ein hohe Diversity aufweist: Altersvielfalt, Bildungsvielfalt, kulturelle Vielfalt, Gendervielfalt, etc. Dass vielfältige Teams oftmals besser performen als homogene Teams, zeigt die McKinsey-Studie „Delivering through diversity“ von 2018. Diversity ist ein wichtiger Bestandteil für die Organisation der Zukunft – und kann gar zu Wettbewerbsvorteilen führen. Darauf sollten Personalverantwortliche stärker achten.
Eigenverantwortung, Individualität und Purpose
Wer Mitarbeitende einbinden möchte, braucht ihnen lediglich mehr Verantwortung geben, ein klares Ziel definieren – und ihnen die Sinnhaftigkeit dahinter vermitteln. Ist das Ziel klar definiert, wissen die Leute, wohin die Reise gehen soll. Verstehen sie den Purpose ihres Handelns, steigt die intrinsische Motivation. Erhalten sie zusätzlich noch die Freiheit, wie sie das definierte Ziel erreichen, werden sie zu Unternehmenden im Unternehmen, zu wahren Intrapreneuren.
Personalverantwortliche können das Unternehmertum der einzelnen Mitarbeitenden zusätzlich fördern, indem sie sich mit deren individuellen Motiven auseinandersetzen: Welche Person benötigt welche Umgebung, um ihr Potenzial vollständig entfalten zu können? Wie können wir Talente im Unternehmen halten? Und wie können wir für Wissenstransfer unserer High Potentials zu den anderen Mitarbeitern sorgen? Das ist kein Spaziergang, denn es geht nicht darum, den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden, sondern die Vielfältigkeit und Unterschiedlichkeit der einzelnen Personen als Stärke zu betrachten.
Lose Netzwerkstruktur
Aus diesem Grund ist es auch nicht unbedingt zielführend, die Organisation in starre Abteilungen zu staffeln. Die Organisation der Zukunft besteht vielmehr aus einer losen Netzwerkstruktur, in der sich die Mitarbeitenden immer wieder zu neuen Arbeits- und Themengruppen zusammentun, gemeinsam und eigenverantwortlich an einem Ziel arbeiten, um sich nach Zielerreichung aufzulösen und in anderen Teams zusammenfinden.
Die lose Netzwerkstruktur macht das Unternehmen flexibel, agil und resilient, denn: Kontinuierliche Veränderung wird dadurch zur Routine für die gesamte Belegschaft, was das Unternehmen auch besser für unvorhersehbare Ereignisse wappnet. Den Netzwerk-Ansatz gibt es in unterschiedlichsten Varianten, darunter: Field of Stars (nach Ali Mahlodji), die lernende Organisation (nach Peter Senge), die integrale Organisation (nach Frederic Laloux), Holocracy (von Brian Robertson), die agilstabile Organisation (nach Dr. Richard Pircher).
Neue Rolle des Leaderships
Die Organisation der Zukunft erfordert ein neues Führungsverständnis. Die Führungskraft wird nicht obsolet. Allerdings fallen durch eine flache und dezentralisierte Organisationsstruktur einige Ebenen des mittleren Managements weg. Der Effekt: Die höheren Führungsebenen stehen wieder direkter im Austausch mit der Shopfloor-Ebene. Gleichzeitig verändert sich die Rolle der Verantwortlichen weg von der delegierenden Führungskraft hin zum empathischen Coach und Mentor.
Future Leadership bedeutet, die Motive der Mitarbeitenden zu kennen und deren Potenzialentfaltung zu fördern. Leader der Zukunft sind in der Lage, die Perspektive zu wechseln, und die unterschiedlichen Lebenswelten der vielfältigen Belegschaft zu verstehen und in den Arbeitsprozess mit den anderen Mitmenschen zu integrieren. Sie fördern beispielsweise intergenerationelles Lernen, weil sie wissen: Jung und Alt können voneinander lernen und profitieren. Somit die Führungskraft in der Organisation der Zukunft Wegbereiter und Wegbegleiter, Mentor und Enabler.
Employability im Fokus
Der digitale Wandel macht neue Kompetenzen notwendig, die auf dem Arbeitsmarkt rar sind. Gleichzeitig werden andere Kompetenzen obsolet. Um Organisationen weiterentwickeln zu können, müssen nicht nur zeitgemäße Strukturen geschaffen werden. Genauso wichtig ist es, die vorhandenen Mitarbeitenden mit den notwendigen Kompetenzen der Zukunft auszustatten. Lebenslanges Lernen und Veränderungsbereitschaft sind dafür erforderlich. Wenn Mitarbeitende sich weiterqualifizieren und umschulen lassen, bleiben sie beschäftigungsfähig und können vom Unternehmen an anderer Stelle eingesetzt werden.
Auch hier ist sowohl für die Personalverantwortlichen als auch für die Mitarbeitenden selbst wichtig, zu verstehen: Was sind meine Motive, meine inneren Antreiber? In welchen Situationen kann ich sie besonders gut entfalten? Wenn Mitarbeitende ihre Motive kennen und mit ihren Personalverantwortlichen teilen, können beide Seiten Wege finden, wo die Mitarbeitenden idealerweise einsetzbar sind.
Zur strategischen Personalentwicklung gehört auch, klassische Beschäftigungsmodelle zu hinterfragen und innovative Ansätze zu wählen, um die Menschen langfristig im Unternehmen zu halten. Wenn Personalverantwortliche gezielt die Potenziale aller Mitarbeitenden entfalten wollen, machen sie das Unternehmen zu einer Stätte der Begegnung, in der unterschiedliche Menschen voneinander lernen und im konstruktiven Diskurs die gesamte Organisation weiterbringen.
Die Bereitschaft zum lebenslangen Lernen
Veränderungsbereitschaft haben nicht alle im Unternehmen. Manche kennen noch nicht einmal ihre Motive, weil sie über die Jahre verlernt haben, zu lernen. Ältere Generationen, die eine monotone Tätigkeit über Jahrzehnte hinweg gemacht haben und nicht gerade in hippen New-Work-Büros sitzen, müssen erst wieder lernen, zu lernen. Diese Motivation muss auch von ihnen selbst kommen.
Entsprechende Strukturen können diese Bereitschaft incentivieren, aber die Mitarbeitenden müssen ebenfalls aktiv werden. Nur so bleibt der „Veränderungsmuskel“ trainiert. Dafür sollte ein interdisziplinärer Austausch im Unternehmen stattfinden, über unterschiedlichste Fachabteilungen hinweg. Wer weiß, was die anderen Bereiche machen, ist informierter und wird gleichzeitig immer wieder mit Neuem, vielleicht sogar Unbekanntem konfrontiert. Fachübergreifender Austausch fördert die Veränderungskultur und hemmt die Angst, sich neuen Themen zu öffnen.
Fazit
Um mit der wachsenden Dynamik am Markt zurecht zu kommen, sind oftmals neue Organisationsansätze erforderlich. Der eine Weg existiert nicht. Jedes Unternehmen ist ein individuelles soziales Konstrukt, das seinen eigenen Ansatz wählen muss. Um mit- und voneinander zu lernen und die Unterschiedlichkeit als Stärke wahrzunehmen, ist Reflexion und Achtsamkeit gegenüber der Umgebung, Veränderungen, Mustern und Themen eine hohe Priorität.
Die Personalentwicklung sollte in alle Fachbereiche integriert sein und nicht allein Aufgabe der Personalabteilung sein. Diese sollte die Bereiche unterstützten und innovative sowie individuell auf die einzelnen Menschen zugeschnittenen Ansätze zu wählen, die die inneren Antreiber der Mitarbeitenden aktivieren. So entwickelt sich das Unternehmen zur starken Organisation der Zukunft.
Über den Autor
Gordon Geisler ist Speaker, Coach, Berater und Inhaber der GORDON GEISLER Zukunfts-DNA Unternehmensberatung. Mit seinem Team begleitet er Menschen bei der Persönlichkeitsentwicklung sowie Unternehmen bei der Transformation und Geschäftsentwicklung. Als Speaker hinterfragt Geisler bestehende Denkmuster auf intelligente und humorvolle Art – und verbindet dabei modernste Erkenntnisse der Neurowissenschaften und der Epigenetik mit Leadership-Themen.
Quelle: HR Journal