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05 December 2025

Fokus, Fantasie, Filterprobleme: Was neurodivergente Menschen im Job wirklich brauchen

Posted in Coaching

Job&Karriere

Fokus, Fantasie, Filterprobleme: Was neurodivergente Menschen im Job wirklich brauchen

Neurodivergenz ist für viele im Joballtag noch ein Fremdwort – dabei arbeiten in jedem Team Menschen mit unterschiedlichen Denk- und Wahrnehmungsweisen. Wer versteht, was neurodivergente Kolleg·innen brauchen, kann Missverständnisse vermeiden und das Potenzial entfalten.

Vielfalt beginnt im Kopf: Was bedeutet Neurodivergenz für den Joballtag? 

Neurodivergenz beschreibt Unterschiede in der Wahrnehmung, im Denken und in der Informationsverarbeitung. Der Begriff ist also kein Trendwort, sondern beschreibt den Fakt, dass jeder Mensch anders denkt, fühlt und Informationen individuell verarbeitet. Neurotypische Menschen bewegen sich dabei oft innerhalb der als normal geltenden Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen – neurodivergente Personen hingegen denken und fühlen auf individuelle Weise.

Zu den häufigsten Formen gehören

  • ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) 
  • Autismus-Spektrum-Störung 
  • Dyslexie (Lese-Rechtschreib-Schwäche) 
  • Dyskalkulie (Rechenschwäche) 
  • Tourette-Syndrom 
  • Hochsensibilität (keine klinische Diagnose, aber oft relevant im Job) 

Wichtig zu wissen: Neurodivergenz ist keine Schwäche – sondern eine andere Art, Informationen zu verarbeiten und die Welt zu erleben. Viele dieser Menschen bringen außergewöhnliche Fähigkeiten mit: Kreativität, Detailgenauigkeit, analytisches Vermögen, emotionale Intelligenz oder die Fähigkeit, „um die Ecke“ zu denken. Gleichzeitig können sie durch Reizüberflutung, unklare Kommunikation oder fehlende Struktur im Arbeitsalltag schnell an ihre Grenzen stoßen – und das liegt meist an einem Umfeld, das primär auf neurotypische Bedürfnisse ausgerichtet ist. 

Neurodivergenz im Job: Wie wir mehr Verständnis schaffen und Potenziale besser nutzen 

Neurodiversität ist Teil unserer Arbeitsrealität – doch noch viel zu oft fehlt das Verständnis dafür, was sich dahinter wirklich verbirgt. Viele assoziieren mit Begriffen wie Autismus oder AD(H)S vor allem stereotype Bilder, etwa den „Computergenie-Autisten ohne soziale Fähigkeiten“ oder das „unruhige, unkonzentrierte Kind mit ADHS“,  während die tatsächlichen Bedürfnisse neurodivergenter Menschen gerade im beruflichen Alltag – etwa bei Kolleg·innen und Führungskräften – noch viel zu wenig bekannt sind. Dabei ist genau dieses Wissen entscheidend, um die Zusammenarbeit in Teams besser zu gestalten und Barrieren abzubauen. 

Susanne Busshart  ist Beraterin für digitale Transformation, Change-Management und New Work. Seit vielen Jahren begleitet sie Organisationen in Veränderungsprozessen und unterstützt Führungskräfte dabei, Arbeitsumgebungen menschlicher, inklusiver und zukunftsfähiger zu gestalten. Neurodivergenz ist für sie dabei kein Randthema, sondern ein wichtiger Baustein einer modernen Unternehmenskultur. 

Im Interview erklärt sie, welche Missverständnisse noch immer weit verbreitet sind, wie sich neurodivergente Menschen im Job fühlen und welche konkreten Schritte Führungskräfte und ihre Teams gehen können, um Hürden abzubauen und ein besseres Miteinander im Arbeitsalltag zu ermöglichen. 

XING: Welche typischen Missverständnisse gibt es Deiner Erfahrung nach im Zusammenhang mit Neurodivergenz?

Susanne Busshart: Aus meiner Sicht liegt die größte Herausforderung darin, dass es noch immer viel zu wenig fundiertes Wissen über Neurodivergenz gibt. Viele Menschen haben kaum eine konkrete Vorstellung davon, was dieser Begriff eigentlich umfasst – geschweige denn, welche unterschiedlichen Formen von Neurodiversität es gibt oder was eine Autismus- oder AD(H)S-Diagnose bedeuten. Stattdessen begegnen einem oft Menschen mit Halbwissen, das aus Klischees gespeist ist: Autist? Ach, wie Rain Man*– das heißt dann gleich Inselbegabung und sonst nichts. Oder ADHS? Klar, der klassische Zappelphilipp. Solche Stereotype führen dazu, dass Menschen vorschnell in Schubladen gesteckt werden – und das wird der Realität in keinster Weise gerecht.

"Es sind keine offensichtlichen Einschränkungen wie ein Rollstuhl, sondern unsichtbare Hürden, die sich im Alltag bemerkbar machen." Susanne Busshart

Welche konkreten Herausforderungen erleben neurodivergente Menschen häufig im beruflichen Umfeld? 

Sie stoßen im Job häufig auf wenig Verständnis – oft, weil man ihnen ihre Herausforderungen nicht direkt ansieht. Es sind keine offensichtlichen Einschränkungen wie ein Rollstuhl, sondern unsichtbare Hürden, die sich im Alltag bemerkbar machen. Dabei heißt anders ja nicht weniger fähig – es bedeutet einfach, dass man andere Bedürfnisse hat. Viele neurodivergente Personen empfinden schon den Weg zur Arbeit als überfordernd – von Lärmpegeln, visuellen Reizen oder fehlenden Rückzugsorten im Büro ganz zu schweigen. Soziale Interaktionen können zusätzlich enorm anstrengend sein. All das beeinflusst die Leistungsfähigkeit – nicht weil jemand weniger kann, sondern weil das Umfeld nicht passt.

Welche konkreten Möglichkeiten siehst Du, wie Kolleg·innen neurodivergente Menschen im Arbeitsalltag effektiv unterstützen können? 

Für mich steht Kommunikation an erster Stelle. Offenes Nachfragen – ehrlich und individuell: „Was brauchst du?“, „Wie kann ich dich unterstützen?“ oder „Wo brauchst du Raum?“. Jeder Mensch tickt anders, und gerade in der Neurodiversität gilt: Kennst du eine neurodivergente Person, dann kennst du genau eine neurodivergente Person. Es gibt keine Blaupause. Deshalb ist es so wichtig, immer wieder neu hinzuschauen, zuzuhören und sich auf das Gegenüber einzulassen – mit Empathie und Offenheit.

"Kennst Du eine neurodivergente Person, dann kennst Du genau eine neurodivergente Person. Es gibt keine Blaupause." Susanne Busshart

Welche Strategien und Hilfsmittel haben sich Deiner Erfahrung nach als besonders hilfreich für neurodivergente Personen im Arbeitsalltag erwiesen? 

Ein charmantes Beispiel aus der Praxis: Statt eines Obstkorbs im Büro haben wir einen Fidget-Korb. So landen die Kugelschreiber nicht ständig in Einzelteilen auf dem Tisch, weil sie zum Stressabbau zweckentfremdet werden (lacht). Aber im Ernst: Es geht darum, sich selbst zu fragen: Will ich mich öffnen, mich zeigen, mich erklären? Wenn ja, entsteht die Möglichkeit, das Arbeitsumfeld aktiv mitzugestalten – physisch wie mental. Ich liebe zum Beispiel den Gedanken vom „äußeren und inneren Raum“: Der äußere Raum, also der konkrete Arbeitsplatz, sollte reizarm, individuell anpassbar und unterstützend sein. Und genauso wichtig ist der innere Raum – also das Mindset: Wertschätzung, Selbstverständnis und das Vertrauen, dass ich richtig bin, wie ich bin. 

Welche Veränderungen wünschst Du Dir für die Zukunft der Arbeitswelt in Hinblick auf die Inklusion und Förderung von Neurodiversität? 

Forschung und Praxis zeigen längst: Diverse, interdisziplinäre Teams sind resilienter, kreativer und erfolgreicher – und sie machen einfach mehr Spaß. Ich wünsche mir, dass wir diesen Gedanken auf Neurodiversität ausweiten. Denn in neurodivergenten Menschen steckt ein riesiges, oft ungenutztes Potenzial. Was fehlt, ist häufig nur das passende Umfeld. Wenn wir das schaffen, individuelle Entfaltung zu ermöglichen, das Verständnis zu fördern und Räume zu bieten, dann profitieren alle. Inklusion von Neurodiversität ist ein echter Gewinn, menschlich wie wirtschaftlich.

*Rain Man ist ein US-amerikanischer Film aus dem Jahr 1988, in dem Dustin Hoffman einen Autisten mit sogenannter „Inselbegabung“ (Savant-Syndrom) spielt. Die Rolle hat das öffentliche Bild von Autismus stark geprägt, steht aber nur für eine sehr spezifische Form autistischer Ausprägung – und spiegelt nicht die Vielfalt neurodivergenter Erfahrungen wider. 

Quelle: Xing - Job&Karriere